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Modest Mussorgsky - Bilder einer Ausstellung
von Reimar Walthert

 

Bilder einer Ausstellung - Analyse: Promenaden

 

Die Suite ist in einer freien Rondoform angelegt, bei der zwischen den einzelnen Bildern insgesamt fünf Mal eine Promenade eingeschaltet wird, in welcher sich der Betrachter von einem Bild zum andern weiterbewegt. Während er so durch die Ausstellung wandert, interessieren ihn einzelne Bilder besonders stark. Bei diesen bleibt er stehen, um sie genauer zu betrachten. Jedes dieser Bilder stellt einen Satz des Werkes dar und soll im Folgenden separat besprochen werden. Zur Reihenfolge der einzelnen Teile ist zu sagen, dass es sich bei den Bildern 1, 3, 5, 7 und 9 um vorwiegend leichtere Stücke mit scherzohaftem Charakter handelt, während jene mit geraden Nummern, also 2, 4, 6, 8 und 10 in langsameren Tempi ins Melancholische bis hin zum Majestätisch - Monumentalen einzuordnen sind. Es sind dies wohl die zwei Arten von Gefühlen, die Mussorgsky beim Gedanken an seinen verstorbenen Freund überkamen. Einerseits die Trauer über dessen Tod, andererseits, die frohen Erinnerungen, die ihn mit ihm verbanden

Der tonliche Zusammenhalt des gesamten Werkes ist gewährleistet durch die Beziehungen der einzelnen Sätze zur Zentraltonart Es-Dur. Ausgehend von der Dominanttonart B-Dur über die Molltonika es-Moll führt diese auskomponierte Kadenz schliesslich zurück zur Zentraltonart Es-Dur im Finale. 

Promenaden

Die Promenaden stellen laut Stassow Mussorgsky dar, der von Bild zu Bild wandert. Er schreibt wörtlich: "Der Komponist hat sich selbst dargestellt, wie er hin und her geht, manchmal stehen bleibt, dann rasch weitergeht, um näher an ein Bild heranzutreten. Manchmal stockt sein Gang - Mussorgsky denkt voll Trauer an den toten Freund". Mussorgsky selbst schrieb in einem Brief an Stassow, den er diesem während der Arbeit an der Suite im Juni 1874 zukommen liess, dass sein geistiges Abbild in den Zwischenspielen erscheine und er es bis jetzt für gelungen halte. 
Das Promenadenthema widerspiegelt in vielerlei Hinsichten Besonderheiten der russischen Sprache (s.o. Musik).
Sein Charakter wird jeweils von dem vorangehenden Bild beeinflusst, so erklingt beispielsweise die Promenadenvariation Con mortuis in lingua mortua nach den Catacombae in von Trauer gezeichnetem h-Moll, während es nach dem Bild der beiden Juden, in der von Ravel gestrichenen Promenade, recht stolz und in beachtenswerter Länge daherkommt. 


Promenade I

Allegro giusto, nel modo russico, senza allegrezza, ma poco sostenuto, B-Dur, 5/4, 6/4

Die erste Promenade ist die Einleitung des Werks. Eindrücklich zum Vorschein kommt der Wechsel zwischen "Vorsänger" und "Chor" am Anfang, was, wie schon erwähnt, eine typische Eigenart russischer Volksmusik ist. Das vorgesungene Thema ist dabei immer wieder dasselbe, mal variiert, mal transponiert.
Die Eröffnungspromenade ist in einer Art a b a Struktur angelegt (a: T 1 - 8, b: T 9 - 21, a: T 21 - 24) , was besonders auch in der Orchestrierung Ravels mit dem Wechsel zwischen Bläsern und Streichern eindrücklich festgestellt werden kann.


Promenade II

Moderato commodo assai e con delicatezza, As-Dur, 5/4, 6/4

Das Thema befindet sich in der linken Hand im Piano. Bei der Wiederholung wird es jeweils in der rechten Hand vom Chor begleitet. Bei seinem dritten Auftreten im Takt 9 wird es bereits von Anfang an begleitet. Während das Promenadenthema durch ein von diminuendo begleitetes ritardando noch im Nichts entschwindet, folgt schon attacca der nächste Satz Il vecchio castello.
Promenade III
Moderato non tanto, pesamente, H-Dur, 5/4, 6/4, :
Das Hauptthema in parallelen Oktaven wird aufgeteilt in hohen und tiefen Chor, die sich beide imitieren. (Methode der russischen Polyphonie im Gegensatz zur westlichen Fugentechnik.) Die letzten beiden Takte werden ausgeblendet durch Zurückfinden zum Unisono, und durch ein diminuendo e ritardando, das auch in den Noten ausgeschrieben ist.


Promenade IV

Tranquillo d-Moll 5/4, 6/4, 7/4, 3/4

Das Promenadenthema beginnt in der Mitte in grosser Höhe im Piano. Die Moll To-nika erinnert an das vorhergehende Bild, das im Betrachter immer noch nachklingt. Alle zwei Takte erklingt es zudem eine Oktave tiefer, was auch von einem stetigen crescendo begleitet wird. Auf dem Höhepunkt im Takt 6 wird das Thema nach einer anfänglichen Imitation wieder in der rechten Hand weitergeführt, worauf im Takt 9 vier Sechzehntel mit Vorschläge als Vorwegnahmen des nächsten Bildes, Das Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen, folgen. Noch einmal erklingt eine letzte Erinnerung an die Promenade, ehe sich der Betrachter endgültig den jungen Hühnchen widmet.


Promenade V

Allegro giusto, nel modo russico, poco sostenuto, B-Dur, 5/4, 6/4

Die fünfte Promenade ist im grossen und ganzen eine Wiederholung der ersten. Sie teilt das Werk in zwei Teile. Wer sie hingegen in Ravels Orchesterversion sucht, wird sie nicht finden, er liess sie weg. Die wenigen Änderungen bewirken eine Verdichtung des Themas, so setzt dieses schon am Anfang in Oktaven ein, während die Begleitung im nachfolgenden Teil zum Beispiel oft einen Viertel durch zwei Achtel ersetzt.

Im restlichen Stück folgen noch zwei Promenadenvariationen. Es sind dies der Zwischensatz Con mortuis in lingua mortua und der majestätische Schluss, Das Bohatyr Tor von Kiew.



Con mortuis in lingua mortua

Andante non troppo, con lamento, h-Moll 6/4

Mussorgsky selbst machte am Rand des Manuskripts die folgende Notiz: "Der lateinische Text lautet: mit den Toten in der Sprache der Toten. Was besagt schon der lateinische Text? - Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an; die Schädel leuchten sanft auf." Nach der Behandlung des Bildes von Hartmann in den Katakomben, fühlt sich Mussorgsky nochmals zurückgezogen zum toten Freund. In diesem langsamen und gefühlvollen Satz denkt er nochmals an ihn und verharrt in Stille, bevor er, wie er ja selbst schrieb, weiter durch die Ausstellung wandert.
Der Satz ist in zwei Teile unterteilt, welche sich beide über zehn Takte erstrecken. Die ersten zehn Takte beginnen mit einem Oktaventremolo auf fis, welches später nach einem chromatischen Abstieg wieder auf fis landet. In der rechten Hand erklingt eine Moll Variation des Promenadenthemas in der Art eines Trauermarsches. Die Melodie der zweiten zehn Takte wird wiederum von einem Tremolo überlagert, das nun ständig auf dem Ton fis ruht.

Das Bohatyr-Tor von Kiew beinhaltet die letzte Promenadenvariation und soll am Ende zusammen mit den Bildern behandelt werden.

 

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