Geboren am 21. März 1839 im Dorf Karewo im Gouvernement Pskow, kam Mussorgsky schon in seiner Kindheit in Kontakt mit den Liedern und Sagen seiner Heimat. Ohne grosse musikalische Kenntnisse begann er schon früh damit, einige dieser Melodien auf dem Klavier improvisierend nachzubilden. Nach Klavierunterricht bei seiner Mutter und bei einem Kindermädchen konnte er schon mit sieben kleinere Stücke von Liszt spielen. Im August 1849 nahm der mittlerweile Zehnjährige den Klavierunterricht bei Anton Herke, einem Schüler von Henselt, auf.
Trotz der offensichtlichen musikalischen Begabung zogen Mussorgskys Eltern wohl nie eine Musikerkarriere ihres Sprösslings in Betracht. Im Gegensatz zum Maler und Architekten war der Beruf des Musikers im Russland des mittleren 19. Jahrhunderts nämlich nach wie vor nicht anerkannt. So beschlossen Peter und Julia Mussorgsky schliesslich 1852 ihre beiden Söhne Modest und Filaret an die Gardejunkerschule von St. Petersburg zu schicken.
An dieser Kadettenschule folgten kurz darauf seine ersten Kompositionsversuche. Obwohl er nie viel über die Grundprinzipien der Harmonie- und der
Kompositionslehre gelernt hatte, fing er schon bald an, kleinere Stücke zu schreiben. Das erste Stück des inzwischen dreizehnjährigen Komponisten, die Porte-enseigne-Polka, wurde auf Betreiben seines Klavierlehrers Herke 1852 sogar veröffentlicht. Das Werk galt lange Zeit als verschollen und wurde erst kurz vor dem zweiten Weltkrieg wieder aufgestöbert.
Der junge Mussorgsky wird von Mitschülern und Bekannten aus dieser Zeit stets als eleganter und dandyhaft gekleideter junger Mann und der Schwarm aller Frauen beschrieben. Allerdings wurde wahrscheinlich auch schon damals der Grundstein für seine spätere Alkoholsucht gelegt, da die jungen Soldaten laut Berichten dritter ein paar Gläschen durchaus nicht abgeneigt waren.
Das Mächtige Häuflein mit Stassow, von oben links nach unten rechts, Mili A. Balakirew, Wladimir W. Stassow, Cesar A. Cui, Nikolaj A. Rimsky-Korsakow, Modest P. Mussorgsky, Alexander P. Borodin
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Nachdem Mussorgsky die Kadettenschule 1857 verlassen hatte, machte er die Bekanntschaft mit den russischen Komponisten Dargomischsky, Balakirew und Cesar A. Cui. Zusammen sollten sie später das so berühmte Mächtige Häuflein bilden. Im selben Jahr lernte er zudem auch noch mit dem Bibliothekaren und Kunstkritiker Wladimir W. Stassow einen starker Verfechter eines künstlerischen Realismus kennen.
Während Balakirew Mussorgsky in Musiktheorie unterwies, wobei er es freilich versäumte, ihm die dazu nötigen Grundlagen beizubringen, so war es Stassow, der Mussorgskys Musik und Einstellung zur Kunst nachhaltig prägen sollte. Entgegen dem Rat Stassows entschloss sich Mussorgsky 1858, den Militärdienst zu quittieren, um sich künftig voll der Musik widmen zu können. Die Tatsache, dass er sich als Sohn begüterter Eltern nicht mit finanziellen Problemen herumschlagen musste, dürfte ihm dies natürlich erleichtert haben.
Diese Zeit war dann allerdings bald zu Ende, als Russland 1861 beschloss, die Leibeigenschaft aufzuheben. Für Gutsbesitzer wie Mussorgskys Eltern, die in der Folge einen Grossteil ihres ehemaligen Besitzes an die vormals Leibeigenen abzutreten hatten, brach nun eine schwierige Zeit an. Zwar begrüssten Mussorgsky wie auch viele andere ehemaligen Gutsherren persönlich diese schon längst fällige Gesellschaftsrevision, welche Russland im Vergleich zum übrigen Europa ins tiefste Mittelalter zurücksandte, doch bedeuteten die neuen Umstände auch, dass er fortan selbst um sein tägliches Brot besorgt sein musste. So nahm er wenig später eine Stelle als subalterner Beamte beim Ingenieurdepartement des Verkehrsministeriums an.
Ein schwerer Schlag traf den Komponisten, als 1865 seine geliebte Mutter starb. Seine wahrscheinlich schon zuvor ausgeprägten Trinkgewohnheiten gerieten danach ein erstes Mal ausser Kontrolle, und noch im gleichen Jahr wurde er mit Delirium tremens in ein Sanatorium eingewiesen.
Karikatur des Mächtigen Häufleins als Anspielung auf ein
russisches Märchen,
in dem die Meerkatze, der Esel, die Maus und der Ziegenbock beschlossen hatten,
Musik zu machen und sich danach über das unbefriedigende Resultat wunderten...
Inzwischen war 1862 in Sankt Petersburg das erste Konservatorium Russlands entstanden. Sein Leiter, der Pianist Anton G. Rubinstein, hatte vor allem deutsche, tschechische und polnische Lehrkräfte an die neue Unterrichtsstätte berufen, was bei Mussorgsky und seinen Freunden auf herbe Kritik stiess. Diese versuchten nämlich ihrerseits unter der Anführung Stassows im Mächtigen Häuflein, eine neue, nationalrussische Musik nach dem Vorbild der Opern Glinkas zu schaffen. Dass dies nicht unbedingt immer bei allen Leuten auf uneingeschränkte Zustimmung stiess, zeigen verschiedene Karikaturen, die über das Mächtige Häuflein angefertigt wurden.
Von den Komponisten des Mächtigen Häufleins war Mussorgsky zweifellos der progressivste. Allerdings stiessen seine zum Teil revolutionären Neuerung bei seinen Mitstreitern nicht immer auf grosse Euphorie und Gegenliebe, so schrieb zum Beispiel 1874 Stassow an Rimsky-Korsakow über die Bilder einer Ausstellung etwas lapidar:
"Den zweiten Teil [des Stückes] kennen Sie noch nicht und da sind, glaube ich, die besten Stücke. [...] zum Schluss "Das Heldentor von Kiew" - in der Art einer Hymne oder ei-nes Finales wie "Slawsja" (in Glinkas "Leben für den Zaren") - natürlich viel schlechter und schwächer, aber doch eben-falls ein schönes, mächtiges und ursprüngliches Stück."
Karikatur des Mächtigen Häufleins von den Makowsky Brüdern. Von links nach rechts:
Balakirew als Bär, Cui als Fuchs, Stassow mit der "Trompete von Jericho" und der "Babylonischen
Trommel" (beides Übernamen für Stassow), Borodin, Rimsky-Korsakow als Krabbe, die Alexandra
und Nadeschda Purgold umarmt, Mussorgsky als stolzer Gockel. Auf Stassows Trompete sitzt
Viktor Hartmann in der Gestalt eines Affen.
Noch Jahre später, als Rimsky-Korsakow das grosse Talent seines mittlerweile verstorbenen Freundes mehr und mehr bewusst wurde, beschränkte sich jener nicht nur auf die Vollendung und Orchestration der zahllosen unvollendet zurückgelassenen Werke und Manuskripte, sondern setzte oft zum Rotstift an, um die nach seiner Ansicht klaren Fehler in den Kompositionen Mussorgskys zu korrigieren.
Diese "Fehler" waren zum Teil das Resultat von Mussorgskys Mangel an musikalischem Theorie- und Formenwissen. Wie schon erwähnt hatten es nämlich sowohl der ehemalige Klavierlehrer Anton Herke, als auch später Balakirew versäumt, ihrem Schüler Mussorgsky das damals übliche Rüstzeug für eine erfolgreiche Komponistentätigkeit zu verpassen. Der Autodidakt musste sich sein Wissen über Kompositionstechniken komplett selber aneignen, und lernte mit unzähligen Versuchen und unendlicher Geduld nach und nach das kompositorische Handwerk. Um so erstaunlicher sind daher natürlich seine Leistungen. Zusammen mit dem Mächtigen Häuflein propagierte er stets eine von deutschen Einflüssen und Zwängen freie, russische Musik. Wichtig war zudem das Resultat und nicht die Art und Weise, auf die es
zustande gekommen war. Unter diesen Voraussetzungen war es natürlich nichts als verständlich, dass seine Musik nicht immer nach den konventionellen Formen niedergeschrieben worden war.
Auch musste in seinem Verständnis von Ästhetik nicht alles vorbehaltlos schön sein. Seine Kunst zeigte auch, was die Malerei schon lange tat, die halt oft bittere Wahrheit, die Realität. So ist denn auch Mussorgskys Tonsprache ungewohnt hart für die damalige Zeit und es stellt sich sogar die Frage, warum sein Bühnenwerk
Boris Godunow schon damals überhaupt so beliebt sein konnte.
Rimsky-Korsakow glättete nun viele dieser harten Ecken und Kanten in Mussorgskys Werken, und nahm ihnen somit leider oft auch ihre wahre Tiefe. In der Johannisnacht auf dem Kahlen Berge ging er sogar so weit, dass er aus Mussorgskys Grundideen ein komplett neues Stück schuf und die vollendete Orchesterfassung Mussorgskys praktisch ignorierte.
Im Jahr 1868 nahm Mussorgsky die Arbeit an seiner Oper Boris Godunow auf. In praktisch jeder freien Minute , die ihm neben seinem neuen Amt im Ministerium für Landwirtschaft noch blieb, schrieb er an diesem Stück, und trug sich alles zusammen, was er über diese Person der russischen Geschichte nur finden konnte. 1869 vollendete er die Urfassung, die allerdings vor der Prüfungskommission des Petersburger Marinsky-Theaters nicht bestand.
Es folgten verschiedene Überarbeitungen und erneute Rückweisungen, bis das Werk im Februar 1874 endlich seine Uraufführung sah. Der Erfolg war dann aber merkwürdigerweise überwältigend. In den nächsten sieben Jahren brachte es die Oper auf nicht weniger als 20 Aufführungen, bei denen das öffentliche Interesse na-hezu konstant blieb. Die Kritik aber reagierte nicht zuletzt wegen Mussorgskys
Verständnis von Ästhetik zwiespältig. Als "Kakophonie in vier Akten" wurde das Werk bezeichnet, und Tschaikowsky wünschte als Absolvent des Petersburger
Konservatoriums die Musik Mussorgskys gar "von ganzem Herzen zum Teufel." Er wollte in ihr sogar "eine gemeine und niederträchtige Parodie auf die Musik" gesehen haben.
Mussorgsky seinerseits hatte aber bereits neue Opernpläne im Hinterkopf reifen. Schon 1872 hatte er begonnen, wieder mit einem Thema aus der russischen
Geschichte, die Oper Chowanschtschina zu planen. Im gleichen Jahr kam auch noch der Liederzyklus Die Kinderstube in den Druck, die auch bei Liszt grosse Anerkennung fand. Leider kam es jedoch nie zu einem Treffen der beiden Musiker .
Inzwischen war Mussorgsky jedoch bereits stark von seiner Alkoholsucht gezeichnet. Was der Komponist selbst für Zeichen von beginnendem Wahnsinn hielt, wird heute treffender als Alkoholhalluzinose bezeichnet. Borodin schrieb dazu in einem Brief an seine Frau Yekaterina Borodina:
"Und hier sind bedauernswerte und sorgenvolle Neuigkeiten - vom Urheber von Boris [Godunow]. Er ist ein starker Trinker. Fast jeden Tag sitzt er im Maloyaroslavetz an der Morskaya, und häufig betrinkt er sich bis zum Umfallen. Sorokins hat ihn diesen Sommer einmal völlig betrunken in Pavlowsk gesehen; er sorgte für Unruhe und zwang sogar die Polizei zum Eingreifen. Wie man mir sagte, kam es sogar schon vor, dass er so stark besoffen war, dass er Halluzinationen hatte und allerlei Unsinn sah."
Sein musikalisches Können aber schien von seinem starken Alkoholkonsum laut Stassow merkwürdigerweise nicht beeinträchtigt worden zu sein.
1873 wurde Mussorgsky mit dem Tod seines Freundes Viktor Hartmann aufs Neue von einem schweren Schicksalsschlag getroffen. "Warum sollen Hunde und Katzen leben, und Menschen wie Hartmann müssen sterben", schrieb er bitter an Stassow. Als Stassow dann nächstes Jahr eine Ausstellung mit Bildern und Architekturskizzen Hartmanns zur Erinnerung an den Künstler zusammenstellte, beschloss Mussorgsky, darüber eine Klaviersuite, eben die Bilder einer Ausstellung, zu schreiben.
Mussorgsky und Naumow
Ebenfalls 1874 begann die Arbeit am komischen Gogol Stoff Der Jahrmarkt von Sorotschinzy. Eher pessimistische Ausstrahlung verbreitete hingegen der Liederzyklus Ohne Sonne, der im gleichen Jahr erschien. Damals begann laut Rimsky-Korsakow auch der "moralische und geistige Zerfall" Mussorgskys. Nach der Uraufführung des Boris Godunow liess sich der Komponist auch weniger im Kreise des langsam zerfallenden mächtigen Häufleins blicken, was von seinen inzwischen angepassteren Kollegen nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen worden sein dürfte.
Grosse Sorgen machten sie sich wegen seiner neuen Freunde, denen sie unterstellten, massgeblich für seinen übermässigen Alkoholkonsum verantwortlich zu sein. Zum Teil dürften diese Sorgen berechtigt gewesen sein, aber gleichzeitig spiel-te wohl auch ein wenig Neid auf die neuen Freunde und Mitstreiter des Komponisten mit.
In den folgenden Jahren schrieb Mussorgsky mit verschiedenen Unterbrüchen vor-wiegend an seinen beiden Opernprojekten Chowanschtschina und Der Jahrmarkt von Sorotschinzy, wobei er einmal diesem, einmal jenem den Vorzug gab. Bereiteten ihm in Chowanschtschina vor allem dramaturgische Mängel im Textbuch Mühe , so überfielen ihn in Der Jahrmarkt von Sorotschinzy immer wieder Zweifel, ob die Musik auch wirklich die kleinrussische Sprache richtig repräsentiere. Weil ihm neben seinem Amt auf dem Landwirtschafts-, und später auf dem Kaiserlichen Kontrollamt nicht genügend Freizeit für seine musikalischen Projekte blieb, quittierte er im Januar 1880 den Kanzleidienst. Ob er dies allerdings ganz freiwillig tat, oder ob sich
vielmehr seine Vorgesetzten wegen seinen Trinkgewohnheiten dazu gezwungen sahen, ihm den Rücktritt nahe zu legen, ist fraglich. Er selbst schrieb jedenfalls in einem Brief an Stassow:
"Die Forderungen, welche die Kunst an ihre Diener stellt, sind heutzutage so riesig, dass sie einen ganz beanspruchen. Die Zeiten, in denen man einfach so in der Freizeit komponieren konnte, sind vorbei. Man muss sich nun mit all seinen Kräften dem Volk geben - das ist es, was die Kunst heute braucht."
Modest Petrowitsch Mussorgsky: Porträt (1881) von I. E. Repin, Tretjakow-Galerie, Moskau
Ohne geregeltes Einkommen war er fortan auf das Wohlwollen von Freunden und Gönnern angewiesen. Eine Gruppe, bestehend unter anderen aus Stassow, versprach ihm darauf 100 Rubel im Monat, falls er die Oper Chowanschtschina zu Ende führe. Fast gleichzeitig war aber eine andere Gruppe auf den Plan getreten, die ihm 80 Rubel pro Monat anbot, falls er sein anderes Opernprojekt, Der Jahrmarkt von Sorotschinzy innerhalb eines Jahres beende. Das Resultat war dann aber leider, dass beide Opern unvollendet blieben.
Mussorgskys zweitletzter Auftritt vor Publikum fand Anfang Februar 1881 im Rahmen einer Gedenkstunde an den kurz zuvor verstorbenen Dostojewsky statt. Einige Tage später erschien er in äusserst erregtem Zustand bei Darja Leonowa, einer Sängerin, die er im Sommer 1879 auf einer grossen Tournee durch den Süden Russlands bis in die Krim begleitet hatte und mit der er regen Kontakt pflegte. Er ha-be nichts mehr, ihm bleibe nun wohl nichts anderes übrig, als auf die Strasse betteln zu gehen, soll er ihr gesagt haben. Noch am gleichen Abend erlitt er einen Schlaganfall, worauf er am folgenden Tag ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Dort entstand auch das berühmte Gemälde seines Freundes Repin, das Mussorgsky im Schlafrock zeigt.
Am 28. März 1881 starb Modest P. Mussorgsky im Nikolaj-Militärhospital in Sankt Petersburg. Die Ärzte diagnostizierten Wundrose, beginnende Epilepsie, Leberzirrhose, chronische Nephritis und Rückenmarkentzündung. Er wurde auf dem Friedhof des von Alexander Newski gestifteten Klosters, dicht neben dem Grab seines grossen Vorbildes Michail Glinka begraben.
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